Akkis Sunset Valley

„Und?“ Lethe sah fast schon diabolisch zufrieden aus.
„Und was?“, echote Jacob, der eigentlich ziemlich genau wusste, worauf sie hinaus wollte.
„War die Hausgeburt in Ordnung?“
Jacob machte ein nichtsagendes Gesicht und hob vorsichtig eines der Mädchen aus dem Bettchen. Er musste sich an dem kleinen Armbändchen orientieren, ob er Leandra oder Leonor hielt. Beide sahen einfach noch ziemlich rosig und zerknautscht aus.
„Du hast Leonor.“, sagte daraufhin Lethe, die im Gegensatz zu Jacob schon sehr genau die Mädchen auseinander halten konnte. „Und Du bist mir noch eine Antwort schuldig.“
Jacob gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und legte ihr das Kind in den Arm.
„Es war ok.“ Dann beeilte er sich aus dem Zimmer zukommen. „Leo hat die Windeln voll.“

Die Zwillinge Leo und Lea abzukürzen hatte sich in kürzester Zeit eingebürgter. Lethe war das immer noch lieber, als von ihnen dauernd als ‚die Zwillinge’ zu sprechen. So wie ‚die Olivas-Drillinge’ oder die ‚Aldridge-Drillinge’. Zum Glück waren es nur Lea und Leo und nicht noch ein drittes. So sicher und geübt Lethe in der Kinderpflege war, mit dem Kleinkind Jaden und zwei Säuglingen wusste sie manchmal wirklich nicht wo ihr der Kopf stand.

Zum Glück waren Jasper und Jason für ihr Alter sehr selbstständig. Jasper durfte schon alleine die Mikrowelle bedienen. So machte er gelegentlich für sich und Jason das Mittagessen warm. Jason musste anschließend dafür das Geschirr wegräumen, denn Jasper hatte ein scharfes Auge darauf, die Arbeit gerecht aufzuteilen.
Außerdem beschäftigte er sich gerne mit Jaden, der sich im Gegensatz zu Jason nämlich noch eine ganze Menge vormachen ließ. In der Schule waren die beiden Brüder zwar kaum voneinander zu trennen, aber Jason entwickelte sich langsam doch zu einem Individuum jenseits des kleinen Bruders.

Eines Abends belauschte Lethe sehr amüsiert wie ihre beiden Ältesten sich über ihre kleinen Schwestern unterhielten. Die Jungs nahmen ein spätes Abendessen auf der Terrasse ein, nachdem sie den ganzen Nachmittag im Pool getobt hatten.
„Wenn die mal groß sind, meinste man kann mit ihnen so spielen wie mit Jaden?“, erkundigte sich Jason bei seinem großen Bruder.
Der spießte mit großer Präzision eine einzelne Erbse auf bevor er antwortete: „Jaden ist ein Junge. Die Kleinen sind bestimmt anders.“
„Eloise ist auch ein Mädchen.“, wendete Jason ein. „Mit der kann man alles machen.“

„Eloise ist cool.“ Nach wie vor himmelte Jasper seine ältere Cousine an. Zu Beginn war er ein bisschen eifersüchtig gewesen, als Eloise auch Jason in ihr Gespann aufnahm. Aber zu dritt ließ es sich einfach noch besser toben und spielen. Eloise hatte immer die besten Ideen und Jason konnte auch Jasper noch gut herumkommandieren. Aber Eloise würde bald auf die Highschool gehen. Ob sie dann immer noch mit den Brüdern spielen würde?

„Du gehst nach China und kommst schwanger zurück?!“, irritiert sah Jacob von den Schwangerschaftstestergebnissen auf und seiner Schwester ins Gesicht. „Bist Du jetzt wie Mama?“
Ashley warf Gideons Jacke, die sie über ihren Arm gelegt hatte, nach ihrem Bruder. „Red keinen Unsinn! Das Kind ist natürlich von Mycroft. Ich war schon schwanger als ich mit Eloise nach China gefahren bin.“
Jacob tat so, als würde ihn das nicht überzeugen. Er genoss es einfach zu sehr Ashley auf die Palme zu bringen. „Also wenn ich so nachrechne … .“
„Du kannst nicht rechnen, deswegen hast Du Deine Matheaufgaben immer von Danie machen lassen.“ Sie raufte sich die Haare. „Und so was wird Arzt!“ Sie nahm Gideons Jäckchen wieder von Jacob entgegen. „Soviel dazu, dass Eloise Einzelkind bleiben sollte.“
Jacob grinste. „Das liegt alles an den Genen unserer Eltern. Lethe hat es mal Lang’sches Gesetz genannt.“
„Was soll das denn sein?“
Jacob zuckte die Achseln und hoffte, dass Ashley ihm seine Verwirrung über diese Äußerung Lethes nicht anmerkte. „Ich hab’s gegoogled, aber nicht dazu gefunden. Vielleicht war es ein Witz.“
„Ja, manchmal kann Lethe sehr witzig sein.“; sagte Ashley und klang wenig überzeugt. „Oh, übrigens habe ich gestern Fiona getroffen.“

Sofort verzog Jacob das Gesicht. „Die muss mir im Moment nicht unter die Augen treten.“
„Äh ja, sie sagte, Du seist irgendwie sauer auf sie.“ Ashley warf sich in Position. „’Jacob? Sauer? Das kann doch gar nicht, Fiona! Du meinst sicher Jonathan, der ist der Hitzkopf’, habe ich ihr gesagt.“
„Haha, sehr lustig! Fiona lässt mich hängen! Seit wir hier nicht nur den Geburtenflügel, sondern auch noch den Kinderflügel vor Ort haben, weiß ich gar nicht wo mir der Kopf steht. Und sie nimmt einfach Urlaub!“
„Mutterschaftsurlaub.“, präzisierte Ashley grinsend. „Ist halt nicht bei allen so, dass die Frau daheim bleibt. Weder Seth noch Lenny haben einen ordentlichen Job und irgendwie müssen Vito und das zweite Kind ja ernährt werden.“

Jacob schnaufte verächtlich. „Ich wette sie weiß nicht mal von wem das Zweite ist. Vito sieht mans nun mal an.“
„Sie macht sich Sorgen, dass Vito den Dachschaden von Lenny geerbt haben könnte.“, fuhr Ashley ungerührt fort. „Oh und sie hat erzählt, dass Chris eine Anstellung im Krankenhaus sucht. Er könnte Dir doch zur Hand gehen.“
„Ich ruf Chris mal an – aber ehrlich, wenn Fiona Angst vor Lennys Dachschaden hat, sollte sie nicht noch ein Kind von ihm bekommen.“
„Deswegen bin ich auch sicher, dass dieses Kind von Seth ist.“ Ashley nahm Gideon auf den Schoß. Bis jetzt hatte er auf dem Boden gesessen und ein Kinderbuch durchgeblättert, doch nun wurde er langsam unruhig. „Ich glaube Du bist gar nicht richtig sauer auf Fiona. Du bist nur gestresst.“
„Ash, ich habe fünf Kinder und Arbeit für fünf Oberärzte. Außerdem haben wir in der Familie ein kleines Problem mit Geistesgestörten. Vielleicht darf ich auch mal gestresst sein. Besonders wenn meine Assistentin DANN SCHON WIEDER IN MUTTERSCHAFTSURLAUB GEHT!“
Ashley und ihr Sohn sahen sich kurz verduzt an. „Wow.“, sagte Ashley dann. „Du BIST gestresst.“
Jacobs linkes Auge zuckte nervös und er trommelte auf seiner Schreibtischplatte. „Vielleicht. Ein bisschen.“
Ashley grinste und erhob sich, Gideon auf der Hüfte sitzend. „Du solltest mit Lethe mal Urlaub machen. Fahrt mal nach China oder so. Bei mir wirkt das Wunder.“

Chris war einer seiner vielen Cousins und das gesunde Kind von Onkel Robby. Chris war geradezu ausnehmend normal, vielleicht ein wenig ungeschickt und ein bisschen losermäßig (zumindest war das in der Schule so gewesen). Er war ein freundlicher und zugewendeter Mann, der beim Klinikpersonal und den Patienten meist gut ankam. Die meisten wunderten sich allerdings, dass er nie ausging und nach der Arbeit immer sofort nach Hause fuhr. Jacob wusste, dass Chris zurück zu Erin musste, die seit dem Tod der Mutter immer mehr am Rad drehte. Sie war fast gar nicht mehr zurechnungsfähig. Jacob selbst war sie schon einmal vors Auto gesprungen und hatte ihn vor Außerirdischen, die seine Frau entführen würden gewarnt. Vielleicht wäre eine Klinik doch die bessere Lösung? Jacob hatte vorsichtig mit Chris darüber gesprochen. Chris wäre dem Gedanken wirklich nicht abgeneigt, denn er machte sich große Sorgen um Erin, die er sich kaum alleinzulassen getraute. Doch Erin griff, wie schon zuvor, auf den angedrohten Selbstmord zurück, weswegen Chris das Thema schließlich weit von sich schob.

Ob Erin ihm das nicht glaubte oder sie in ihrem Wahn einen Unfall provoziert hatte, konnte später niemand mehr sagen. Eines Tages fand Chris sie nach seiner Schicht im Krankenhaus tot vor der Stereoanlage.

Nach der Beerdigung zog Chris in das freistehende Haus neben seiner Cousine Fiona und ihren beiden Männern. Inzwischen hatte Vito einen kleinen Bruder namens Xander bekommen. In seiner Geburtsurkunde wurde tatsächlich Seth als Vater eingetragen. Chris, der seine Cousine immer sehr gemocht hatte, war mit beiden Männern gut befreundet und übernahm gerne Babysitting-Dienste.

Eines Morgens schlurfte Chris noch im Schlafanzug auf die Veranda um die morgendliche Zeitung reinzuholen. Wie angewurzelte blieb er stehen. Fing es jetzt bei ihm auch an? War er jahrelang ohne den Wahnsinn ausgekommen nur um jetzt, wo sein Vater und seine Schwester tot waren, ihm selbst anheimzufallen?
„Der hat mich rausgeschmissen!“ Erin stand vor ihm. Nicht die echte Erin, nicht die Erin aus Fleisch und Blut sondern eine Erin aus … ja aus was? Aus Ektoplasma? Sie war durchsichtig und ab und an flackerte ein Blitz in dieser Undurchsichtigkeit auf.
„ ‚Die ist ja völlig verrückt!’ hat er gesagt und mich einfach rausgeschmissen!“, empörte sich die Erscheinung weiter. Dann schwebte sie einfach an Chris vorbei. Der stand wie zur Salzsäure erstarrt auf der Veranda und starrte auf den Fleck, wo er gerade die Erscheinung gehabt zu haben glaubte.
„Ich mach mal Frühstück.“, rief es aus dem Haus. „Ich habe bestimmt seit Wochen nichts mehr gegessen!“
‚So fängt es also an.’, dachte Chris und wurde auf einmal merkwürdig ruhig. ‚Dad hat auch geglaubt seinen toten Zwilling gesehen zu haben. Es ist ganz normal. Wir werden halt alle irgendwann verrückt.’
Dann drehte er sich um und schlurfte ins Haus zurück. Die Zeitung blieb auf der Veranda liegen.

Im Krankenhaus merkten es die Mitarbeiter schnell, das irgendetwas nicht mehr mit Chris stimmte. Er schien die meiste Zeit nicht um sich herum wahrzunehmen. Jacob sah sich schließlich gezwungen, mit seinem Cousin zu sprechen.
„Und dann hat er tatsächlich behauptet Geister zu sehen! Geister! Jetzt ist es mit seiner Gesundheit soweit. Er wird ein neuer Onkel Robby.“, berichtete Jacob Lethe nach diesem Gespräch. „Ich dachte schon, wir hätten nur noch Lenny, aber der sieht keine Geister. Chris war immer so vernünftig.“

„Aber es gibt Geister.“, erwiderte Lethe bestimmt. „Warum seid ihr nur immer alle so verbohrt?“
„Ich bitte Dich! Geister! Wie soll das denn wissenschaftlich erklärbar sein?“
„Manche Dinge lassen sich nun mal nicht direkt erklären. Aber glaub mir, wenn ich Dir sage, dass es Geister gibt.“
Jacob musterte Lethe. Zog sie ihn auf oder verlor auch sie den Verstand.
„Und vermutlich sieht Chris den Geist seiner Schwester. Die ist nämlich zu verrückt, die schmeißen sie bestimmt raus.“, erklärte Lethe. „Wenn Du mir nicht glaubst, frag halt Darrel. Der muss so etwas auch wissen.“ Lethe hielt erschrocken inne. Sie war fest von dem überzeugt was sie gesagt hatte. Aber warum sollte ausgerechnet Darrel so etwas wissen? Und seit wann glaubte sie an solchen esoterischen Humbug?
Nicht minder erschrocken sah Jacob seine Frau an. „Lethe,..“
„Das Babyphon!“ Mit einer fahrigen Bewegung wies Lethe auf das entsprechende Gerät. „Ich seh’ besser mal nach was los ist!“

Jacob starrte auf die Tür durch die Lethe eben verschwunden war. Er hatte nie einen Grund gehabt, ihre Ahnungen anzuzweifeln. Aber was war das gewesen? Sie nahm Chris doch nicht etwa ernst? Und was hatte Darrel damit zu tun?
Kurz entschlossen sprang Jacob auf und rannte aus dem Haus. Er schwang sich auf sein Fahrrad und radelte los.
Als er vor Chris’ Haus stand, war er schon wieder kurz davon alles abzutun. Lethe hatte bestimmt nur Spaß gemacht. Außerdem war Chris um diese Zeit eh im Krankenhaus.

Doch es brannte Licht. Zögernd klingelte.
„Es ist offen!“, rief eine Stimme aus dem Haus. „Ich bin grad in der Küche!“
‚Das ist nicht ihre Stimme. Vielleicht ist es Fiona, die Chris ein bisschen im Haushalt hilft.’, dachte Jacob und öffnete die Tür. „Hi, hier ist Jacob. Ist Chris da?“
Sie schwebte aus der Küche und ….

… das nächste woran sich Jacob erinnerte, war das er auf dem Boden lag, die Beine auf ein dickes Sofakissen gestützt.
„Wieder da?“ Erin sah ihm direkt in die Augen – nur das er durch ihren Schädel die Deckenlampe sehen konnte.
„Du bist tot.“
Erin neigte den Kopf und grinste. „Körperlich ja. Aber meine Essenz, das eigentliche Sein eines jeden Sims, lebt noch. Also lebe ich auch noch.“
„Sims?“
Erin winkte ab. „Vergiss es. Das verstehst Du eh nicht.“ Sie half ihm auf. „Geht es Dir besser?“
Jacob wiegte unsicher den Kopf.
„Wenn Du durch mich hindurch fassen willst, dann mach es schnell und bitte nicht am Bauch. Das stört das Baby.“, erklärte Erin.
„Du hast mir doch gerade aufgeholfen. Wie soll ich da durch dich hindurch fassen können.“, fragte Jacob, wie immer logisch denkend, nach.
„Oh, endlich einer der’s kapiert! Tatsächlich kann ich alles anfassen, ABER auch hindurchfassen. Also willst Du oder nicht?“
„Ähm nein. Später vielleicht. Hast Du was Alkoholisches da? Und Gib mir bitte das Telefon. Ich muss Lethe anrufen.“
Erin kicherte und schwebte zum Wohnzimmerschrank. Sie holte eine Flasche Whiskey und Glas heraus. „Du hast nicht an Geister geglaubt, oder?“ Sie schüttete ihm einen großzügiegn Schluck ein. „Aber Lethe glaubt.“
Jacob nickte und exte den Whiskey weg. „Lethe meinte es gäbe mehr als man erklären kann.“
„Damit hat sie natürlich recht. Oh, glaubst Du, Du kannst einen Ultraschall bei mir machen?“
„Ultraschall? Wie soll das denn bei Dir funktionieren?“ Er hielt ihr das Glas hin, damit sie es ein weiters Mal füllte.
„Hm, Du hast wahrscheinlich Recht. Untersuchst Du mich trotzdem?“
„Warum?“ Jacob leerte das Glas ein zweites Mal. Er trank sonst sehr selten, aber auf diesen Schock.
„Na wegen des Babys, Du Dummkopf. Hier das Telefon.“
Jacob nahm den Hörer, machte aber keine Anstalten zu wählen. „Du … Baby?“
Erin kicherte. „Ja. Meinst Du Geister leben zölibatär?!“

Als Chris einige Stunden später nach Hause kam, fand er einen sehr angetrunkenen Arzt und eine kichernde Erin vor.
„Du! Du bist nicht … bist nicht verrückt!“, lallte Jacob ihm statt einer Begrüßung zu. „Deine Schwester ist ein Geist!“
Chris sah nachdenklich von dem Betrunkenen zu seiner Schwester, die er für eine Einbildung seines Geistes hielt.
„Sie bekommt ein Baby!“, fügte Jacob verschwörerisch hinzu. „Du wirst Onkel. Onkel von einem Geisterbaby!“ Dann brach er gemeinsam mit Erin in haltloses, irres Kichern aus.
‚Wahrscheinlich bin ich nicht verrückt.’, dachte Chris nüchtern. ‚Aber alle anderen sind es offenbar.’

Die Nachricht, dass bei Chris ein echter Geist lebte, machte in Sunset Valley schnell die Runde. Fast jeder schaute mal vorbei, gerade die Kinder waren sehr neugierig. Erin ließ die Schar der Neugierigen majestätisch wie eine Königin über sich ergehen. Sie kokettierte mit der Aufmerksamkeit und Chris kam nicht umhin festzustellen, dass Erin –seit sie ein Geist war – wesentlich weniger verrückt war als vorher und sich viel besser in die Gesellschaft eingliederte.

Als die Aufmerksamkeit langsam nachließ, sah man der durchscheinenden Erin langsam an, dass sie ein Baby erwartete – oder sich einen ziemlichen Ectoplasmabauch angefuttert hatte. Als schließlich Babygeschrei das Haus an der Promenade erfüllte, war allen klar, dass ersteres der Fall gewesen war.

„Stinken tust Du jedenfalls wie ein normales Baby.“ Chris wickelte seinen Neffen Anwar, denn Erin war mal wieder mit dem Kopf im Wolkenkuckuckheim. Seit der Geburt des Kindes war sie wieder etwas verrückter. Anwar störte das überhaupt nicht, er hatte sich schon zu einem gesunden, hübschen Kleinkind entwickelt – wenn man davon absah, dass er durchsichtig war.

Das war ja klar gewesen! Kaum war SIE wieder da, fingen die übernatürlichen Phänomene an. Natürlich hatte es immer Geister in Sunset Valley gegeben, aber seit SIE hier war, bemerkten auch die normalen Menschen sie.
Darrel trat mit finsterem Blick vom Teleskop zurück. Lethe … sie war ganz anders als früher. Viel .. netter?
„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße.“, sagte er leise zu sich und grinste teuflisch. Scheiße, so hatte er SIE immer gefunden. Und jetzt war sie harmlos, wie eine kleine Schwester eben.
„Zumindest noch. Sie ahnt ja immer noch nichts, dieser Einfaltspinsel!“ Er rieb sich die Hände und richtete das Teleskop neu aus. Vom Geist seiner Cousine Erin hatte er erstmal genug. Um Erin machte er sich auch keine Sorgen, denn sie war bekanntermaßen verrückt. Selbst wenn Erin etwas über Lethe oder über ihn wusste, würde ihr niemand glauben.

Und Lethe war mit den fünf Rangen ausgelastet. Der alte Käsekuchentrick zog eben noch immer! Darrel hatte den Kuchen von Shameka backen lassen und ihn an Jacob geschickt. Prompt hatte Lethe Zwillingsmädchen bekommen. Darrel würde also bis zu deren Einschulung mindestens Ruhe vor IHR, vor Lethe haben. Und wenn ihre Amnesie anhielt, noch länger. Darrel sah zum Himmel.



Derweil …
Lethe sah zum Himmel. Irgendetwas hatte Darrel mit ihrem früheren Leben zu tun. Immer wenn sie die kleinen Flashbacks hatte, die ihr Bilder aus der Vergangenheit zeigten, hatte Darrel irgendetwas damit zu tun. Sie senkte den Blick und deswegen sah sie nicht das kleine Licht am Horizont, dass der flüchtige Beobachter für eine Sternschnuppe halten würde …

Darrels Plan schien aufzugehen: Lethe kam an manchen Tagen erst am Mittag dazu etwas zu essen und sich aus der Nachtwäsche zu schälen. Die drei Kleinkinder Jaden, Lea und Leo nahmen den ganzen Vormittag ihre Zeit in Anspruch.



Die drei wollten kuscheln, mussten getröstet werden oder einfach beschäftigt werden. Selbst wenn alle drei friedlich vereint vor dem Spieltisch saßen und mit den Bauklötzchen spielten, hielt Lethe ein Ohr offen. Denn spätestens wenn sie dreißig Sekunden nichts hörte, war davon auszugehen, dass entweder gleich ein riesiges Palaver losbrach oder die drei einträchtig die Tapete oder den Boden bemalten oder Bauklötze in die Toilette stopften. Vor allem seit auch die Zwillinge laufen konnten, kam es häufiger zu kleinen Sabotageakten.

Was Darrel natürlich nicht ahnte, war das Lethe in der knapp bemessenen Freizeit, die sich ihr vor allem Nachmittags eröffnete, wenn Jacob und die beiden Älteren daheim waren, inzwischen das Internet bemühte um etwas über Darrel herauszufinden. Natürlich war er seitens seiner Organisation sehr gut gegen solche Versuche Informationen zu beschaffen gefeit, aber es hätte ihn sicherlich beunruhigt davon zu erfahren.



Ganz erfolglos war Lethe nicht: Die Nerds aus Darrels Organisation hatten ein paar winzige Verknüpfungen zwischen Darrel und seinem Mentor Harry Porter übersehen. Harry Porter war längst nicht so paranoid wie Darrel gewesen. So fand Lethe heraus, dass er bis zu seinem Tod der führende Kopf des regionalen Verbrechersyndikats war. In einem Archiv entdeckte Lethe ein Bild, das Darrel mit Harry bei der Veranstaltung eines Wettbüros zeigten. Darrel war auf dem Bild noch sehr jung, vielleicht gerade mit der Highschool fertig.

Lethe lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück und starrte das Bild an. Warum hatte Jonathan nie seinen Cousin auf Verbindungen zum organisierten Verbrechen abgeklopft? Das Bild war ein sehr starkes Indiz für diese Verbindung.
‚Besonders wenn man bedenkt, dass Harry Porter Shamekas erster Mann war.’, dachte Lethe. Sie vergrößerte das Bild und stockte. Das Hochladedatum lag erst wenige Stunden zurück, dabei war das Bild schon gut zwanzig Jahre alt. ‚Das wird ja immer besser.’
„Maaaaaaaaaaama!“, hallte in diesem Moment der empörte Schrei Jasons durch Haus. „Jaden hat meinen neuen Comic bemalt!“
Lethe seufzte und speicherte schnell das Bild ab, bevor sie den PC herunterfuhr und nach oben ging, um den aufkeimenden Streit zwischen den beiden Jungs zu verhindern.

„Sag mal … Womit verdient Darrel eigentlich sein Geld?“ Lethe versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen und ließ sich aufs Bett fallen. Sie trug noch ihre Jeans, während Jacob schon umgezogen, gewaschen und mit geputzten Zähnen da lag. Das Badezimmer hatte er anschließend auch schon wieder geputzt. Manchmal fragte sich Lethe, ob sein Sauberkeitsfimmel berufsbedingt war oder ob er nur so gut im Beruf war, weil er so einen Sauberkeitsfanatiker war.
„Darrel? Das weiß ich nicht.“
„Und mit der Stimme, mit der Du das sagst, willst Du mich daraufhin weisen, dass Du es auch gar nicht wissen willst.“ Lethe sah ihn schief an. „Also hat er tatsächlich Dreck am Stecken.“
„Lethe, er ist Familie.“, wich Jacob aus und sah zur Seite.
„Aber wenn er Verbrechen begangen hat, muss er dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Egal, ob er ‚Familie ist’.“ Sie äffte Jacobs Tonfall nach. Gleich danach grinste sie entschuldigend.
„Ich bin Arzt, kein Polizist oder Richter.“, erklärte Jacob dann. „Das geht mich nichts an.“ Er drehte sich um und löschte sein Licht. „Schlaf gut, Lethe.“



Mit hochgezogenen Augenbrauen erhob sich Lethe wieder vom Bett und ging ins Bad. Jacobs Loyalität für Familienmitglieder war manchmal so blind! Fast schon wütend rammte sie sich die Zahnbürste zwischen die Zähne und verletzte sich beinahe am Zahnfleisch. Das ärgerte sie noch mehr, so dass sie ihrem Spiegelbild verdrießliche Blicke zuwarf.
Als sie später ins Bett ging, schlief Jacob schon. Seufzend glitt sie neben ihn unter die Decke und starrte ins Dunkle. Was sollte sie tun?

Am nächsten Tag hatte Jacob seinen freien Tag und die Eheleute verbrachten den Vormittag samt Babyphone im Garten. Obwohl sich Lethe gerne um die Pflanzen kümmerte, waren sie nach der Geburt der Zwillinge sehr vernachlässigt worden. Wahrscheinlich würden sie ein paar Gewächse einfach rausreißen und neu anpflanzen müssen.
Jacob war nicht böse mit Lethe. Er wusste selber sehr genau, dass Darrel keine reine Weste hatte. Aber es wäre doch Verrat an der Familie, würde er ihn anschwärzen. Mal ganz von den Konsequenzen besonders für Jonathan oder Tiana, die beide für die Polizeibehörden arbeiteten. Man würde ihnen – natürlich völlig grundlos – unterstellen, dass sie ihren Verwandten all die Jahre gedeckt hätte. Zumindest bis das aufgeklärt wäre, wären sie suspendiert und ihr Ruf wahrscheinlich auf Jahre, wenn nicht sogar für immer, ruiniert.
„Ich habe nachgedacht.“, unterbrach Lethe Jacobs Überlegungen.



„Hm?“
„Ich verstehe warum Du Darrel in Bezug auf seinen Gelderwerb in Frieden lässt.“, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie sah ihn liebevoll aus ihren blaugrünen Augen an. „Auch wenn ich es nicht gutheißen kann.“
„Also bohrst Du nicht weiter nach?“
Lethe sah kurz zum Himmel und nickte dann ohne Jacob anzusehen. Nein, was Darrels verbrecherische Karriere anging würde sie wirklich nicht nachbohren.

Zu Lethes großer Erleichterung war Jasper inzwischen auf der Highschool. Er half zwar nicht besonders gerne, aber ohne großen Widerwillen im Haushalt, in dem trotz des täglich kommenden Putzdienstes immer irgendetwas anfiel. Mit wesentlich mehr Begeisterung widmete er sich seinen kleinen Schwestern. Die nutzten ihren großen Bruder mit kokettem Augenaufschlag hemmungslos aus. Lethe und Jacob schmunzelten sich oft gegenseitig an, wenn Jasper mit einem der Zwillinge auf dem Rücken durchs Haus lief und ihr als Pferd zur Verfügung stand. Seit er das erste Mal Leo und Lea auf seinem Rücken hatte reiten lassen, kam er von dieser Verpflichtung nicht mehr los.

Nicht nur Jasper war den Kinderschuhen entwachsen. In der ganzen Nachbarschaft tummelten sich inzwischen frischgebackene Teenager, die von ihren oft nur unwesentlich älteren Geschwistern, Verwandten und Freunden noch milde belächelt und als ‚die Kleinen’ bezeichnet wurde.
Eloise und Lauren waren eine ganze Ecke vor Jasper auf die Highschool gewechselt, aber die drei verstanden sich sehr gut. Besonders Eloise und Jasper waren nach wie vor ein Herz und eine Seele. Manchmal machte sich Lethe deswegen große Sorgen, aber dann stritten sich die beiden Verwandten wieder wie Geschwister und sie war etwas beruhigt.



Eloise kümmerte sich nicht mit ganz so großer Begeisterung wie Jasper um ihre beiden kleinen Brüder Gideon und Sammy, ließ sich aber regelmäßig dazu herab mit Gideon ein Buch zu lesen oder mit Sammy zu spielen. Viel lieber aber lief sie alleine durch Sunset Valley. Dann blieb sie hin und wieder stehen und starrte in die Ferne. Danach zog sie sich manchmal stundenlang zurück und malte begeistert Phantasiegemälde.

Die Liebe zur Malerei teilte sie mit Lauren. Nachdem sie lange um die Staffelei ihrer Mutter herumgeschlichen war, hatte sie ihren Vater gebeten, daran malen zu dürfen. Es fiel Shane zwar sichtlich schwer das noch von June angefangene Bild abzunehmen und damit etwas im Schlafzimmer zu verändern, aber er konnte seinen Kindern kaum einen Wunsch abschlagen. Ehrfurchtsvoll stand Lauren lange Zeit vor der leeren Staffelei, bevor sie eine neue Leinwand aufzog, Farben auf eine Palette spritze und mit zuerst zögerlichen, dann kräftigeren Pinselstrichen ein Bild zu malen.



Ihr Vater beobachtete sie still im Türrahmen stehend. Vielleicht war es heilsam, dass jetzt eine ihrer Töchter die Staffelei benutzte. Er hatte das Zimmer nie verändert. Vor Wills Geburt war bis auf dieses Zimmer das ganze Haus umgebaut worden, doch weil er um Junes Gewohnheiten wusste, hatten die Handwerker nie ihr Schlafzimmer angerührt. Nach ihrem Tod hatte Shane diese Angewohnheit übernommen und deswegen stand auch noch das angefangene Bild auf der Staffelei.
Er sah auf die Leinwand, die er immer noch in der Hand hielt. Die Bewegung ließ Lauren aufmerken. Sie lächelte ihren Vater freudig an und er musste sofort auch lächeln. Dann ließ er Lauren weitermalen und schlug die Leinwand in ein altes Tuch ein, bevor er sie unter sein Bett schob.

Shane hatte trotz seines schweren Schicksalsschlag inzwischen sein Lebensziel verwirklicht: Er war Superstar. Beruflich hatte er damit fast alles erreicht. Ihm fehlten nicht mehr viele Siege und er würde zur Legende werden.



Aber das war ihm längst nicht so wichtig wie das Wohlergehen seiner Kinder und Stiefkinder. Zum Glück entwickelten sie sich alle hervorragend. Helena war sogar inzwischen mit der Schule fertig und auch Jeremy würde bald seinen Abschluss machen. Lauren hatte den Übergang zur Highschool gut gepackt. Sie war eine sehr gute Schülerin. Ähnlich wie Jeremy flog ihr der Stoff zu. Die beiden mussten selten für eine Prüfung lernen um hervorragende Ergebnisse zu erzielen. Helena hatte sich schon anstrengen müssen, besonders um ihre Versäumnisse nachzuholen und Amy tat sich gelegentlich sehr schwer in der Schule. Doch eines ihrer älteren Geschwister fand immer Zeit sich mit ihr hinzusetzten, Hausaufgaben nachzuarbeiten oder für eine Klassenarbeit zu lernen. Shane erinnerte sich noch an seine eigene Schulzeit, zu der so häufig verzagt vor Hausaufgaben saß und sich verzweifelt bemühte zu einem Ergebnis zu kommen. Ihm hatte damals niemand zur Seite gestanden. Umso mehr freute ihn der Zusammenhalt der Kinder. Er belohnte Helena, Jeremy und Lauren für ihr Engagement indem er ihnen einen Kinobesuch spendierte oder ihnen eine neue CD oder ein Buch besorgte. Amy wurde für ihre Bemühungen auch belohnt, doch sie zog es meistens vor mit Shane ins Stadion zufahren und beim Training zuzusehen.

Wie sich wohl der kleine Will in der Schule anstellen würde? Noch musste er sich damit nicht herumschlagen. Will hatte besonders schnell laufen gelernt und erkundete furchtlos das Haus und den Garten. Shane hatte extra neue, schwere Riegel an den Türchen zum Garten anbringen müssen, denn Will schrak auch nicht davor zurück auf die Straße zu laufen. Seinem Vater machte auch der Pool im Garten Sorgen, so dass alle ein Auge darauf hatten, Will nicht in den Poolbereich zu lassen.



Um Helena für ihre unermüdliche Hilfe im Haushalt und vor allem mit Will zu danken, buchte Shane einen Frankreichurlaub für seine Stieftochter. Er hatte bemerkt, dass Helena dem Ende ihrer Schulzeit mit Schrecken entgegen sah. Sie hatte keinerlei Plan für das Leben danach. Shane vermutete außerdem, dass Helena befürchtete auch weiterhin für die Geschwister und Shane sorgen zu müssen. Shane wollte ihr diese Angst nehmen und ihr die Möglichkeit geben, etwas anderes als Sunset Valley zu sehen. Ein neuer Blickwinkel schadete nie!

Der Flug nach Frankreich hatte Helena erschöpft und so ließ sie sich erst einmal auf ihr Bett fallen, als sie eingecheckt hatte. Sofort schlummerte sie ein und wurde erst am frühen Abend wach. Im ersten Moment wusste Helena nicht, wo sie war, doch dann kam die Erinnerung zurück.
‚Frankreich.’, dachte Helena und rieb sich das Gesicht. Bestimmt sah sie sehr zerknautscht aus. ‚Und was mach ich jetzt?’ Helena erhob sich und ging ins Badezimmer wo sie sich das Gesicht wusch. Während sie sich das Gesicht mit dem hoteleigenen, flauschigen Handtuch trocknete, ging sie im Kopf durch, was sie im Schulunterricht über Frankreich gelernt hatte. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Wie sollte es daheim weitergehen? Natürlich könnte sie all ihre Energie auf den Haushalt und ihre Geschwister konzentrieren. Nachdem June gestorben war und diese Dinge an Helena und Shane hingen, war sie zuerst verzweifelt, doch dann hatte sie ihren Ehrgeiz entdeckt. Helenas Problem war, dass sie sich sehr gut auf eine Sache konzentrieren konnte, aber eben nur auf eine. Sie hatte den Haushalt und Williams Pflege wirklich gut hinbekommen. Nur hatte darunter ihre Schulleistung gelitten. Das wäre wahrscheinlich nicht aufgefallen, wenn Marisol sie nicht verpetzt hätte und sich anschließend Lethe mit Jaden bei ihnen einquartiert hätte. Lethe hatte es so lieb gemeint und rein rational wusste Helena auch, dass es so für alle das Beste war. Aber sie fühlte sich in ihrer Kompetenz kritisiert.



Diese empfundene Kritik würde es nicht zulassen, dass Helena nach ihrer Rückkehr einfach das Hausmuttchen spielte. Nein, von Haushalt und Kinderpflege würde sie sich distanzieren. Aber was sollte sie dann anfangen? Ihr Abschlusszeugnis war ganz ok, aber es ließ ihr nicht unbegrenzten Spielraum in der Wahl des Berufes.
Natürlich könnte sie anfangen zu schreiben und damit in die Fußstapfen ihrer Mutter treten. Aber dann hieße es immer nur: Helena Thomas, die Tochter der verstorbenen Preisträgerin June Cope … Das wollte sie sich wirklich nicht antun. Außerdem war es Jeremy, der Junes schriftstellerisches Talent geerbt hatte, nicht sie.

Helena verließ kurz darauf ihr Zimmer und informierte sich vor dem Hotel über angebotene Touren, Sightseeing und Events. Am nächsten Morgen würde es einen Ausflug zum Nektarium geben. Helena hatte keine Ahnung von Nektar. Bisher hatte sie noch nie welchen trinken dürfen und von der Herstellung machte sie sich keine Vorstellung. Schulterzuckend ging Helena zur Rezeption des Hotels und buchte den Ausflug für sich. Dann spazierte sie durch die kleine Altstadt und stöberte in den Läden herum, bevor sie sich in ein Café setzte und ein kleines Abendessen einnahm.



Am nächsten Morgen ließ sich Helena mit einem knappen Dutzend anderer Touristen zum Nektarium karren, wo sie eine englische Führung erhielten. Irgendwann ging es nur noch um die Gründerfamilie des Nektariums und deren Geschichte, so dass Helena abschaltete und sich langsam zurückfallen ließ. Was interessierte sie eine halb ausgestorbene französische Nektar-Familie? Aber die Nektarherstellung hatte es ihr angetan! Sie schlich mit ehrfurchtsvollem Blick durch die Räume und strich nachdenklich über das Holz der Nektarfässer.
„Mademoiselle? Entschuldigen Sie, aber sie können hier nicht alleine bleiben. Kommen Sie bitte wieder mit? Wir werden jetzt eine Nektarprobe machen.“ Ein Angestellter des Nektariums sprach sie freundlich, aber bestimmt an.
Helena nickte ihm mit einen entschuldigen Lächelnden zu und folgte ihm zur Gruppe zurück. Dort angekommen wurde ihr ein Glas mit Nektar in die Hand gedrückt. Vorsichtig nippte sie daran.

Es schien als würden alle Geräusche um Helena herum verstummen. Ihr Blick wurde fast etwas trüb, aber ihre Geschmacksnerven explodierten!
Während die anderen Teilnehmer in anerkennende „Ahs“ und „Ohs“ ausbrachen, umspielte ein zufriedenes Lächeln Helenas Lippen.



„Du hast WAS?“ Shane verschluckte sich gründlich an seinem Proteinshake, was den im Hochstuhl sitzenden Will zu Freudenschreien anstachelte.
„Ich habe eine Nektarherstellungsmaschine und mehrere Nektarregale aus Frankreich bestellt. Außerdem habe ich die Samen der drei berühmtesten Weintraubensorten mitgebracht.“, erwiderte Helena gelassen.
„Aber warum das denn?“
„Ich will Nektar herstellen. Und dazu brauche ich Deine Hilfe.“ Sie sah ihren Stiefvater freundlich an. Shane stellte sorgsam den Shake ab und verschränkte die Arme. Er mochte einfältig sein, aber er konnte schon ahnen, worauf diese Hilfe hinaus laufen würde!
„Ich würde mir gerne Geld von Dir leihen.“, erklärte Helena. „Damit ich ein Gründstück kaufen kann, wo ich Obst anbauen kann und meinen Nektar herstellen kann.“
Shane kratzte sich am Kopf. Er wollte alles tun um die Kinder seiner June zu unterstützen, aber was wenn Helena sich da in etwas verrannte? Konnte sie damit wirklich Erfolg haben? Oder sich zumindest ihre Existenz sichern?
„Ich habe mir das alles sehr genau überlegt und einen Business-Plan erstellt. Wenn Du willst zeige und erkläre ich Dir alles.“, fuhr seine Stieftochter fort wohl wissend, dass Shane solche kaufmännischen Aufstellungen scheute wie der Teufel das Weihwasser.
„Willst Du nicht mal mit Deinem Vater darüber sprechen?“ Colin hatte Helena zwar zum Geburtstag und zur bestandenen Prüfung gratuliert, aber der Kontakt zu seiner Tochter war eher sporadisch.
„Nö.“, lautete Helenas Antwort. „Ich möchte das mit DIR besprechen.“
Shane war gerührt, aber er machte sich auch große Sorgen. Vielleicht sollte er Mycroft zu Rate ziehen? Doch Helena ließ ihm kaum Zeit zum Nachdenken.
„Ich habe in Frankreich wirklich viel über die Nektarherstellung gelernt. Außerdem habe ich mir sämtliche Fachliteratur besorgt. Ich werde mit der Zeit wirklich guten Nektar herstellen. Außerdem ist das hier in der Umgebung doch wirklich eine Marktlücke! Das importierte Zeug ist so unendlich teuer und einheimischen Wein aus unserer Region gibt es nicht wirklich.“ Helena sah ihn treuherzig an. „Ich komme doch auch aus einer Farmerfamilie. Die Pflanzen im Garten habe ich auch immer gut gepflegt. Ich schaff’ das schon!“
„Ähm … also weißt Du Helena.“, stotterte Shane.
„Ich zahle es Dir auch so bald wie möglich zurück! Ich kann mit Geld umgehen!“, schleuderte Helena die nächsten Argumente ab, weiterhin mit einem gewinnenden Lächeln.
„Ich … Lass mich darüber nachdenken.“, erbat sich Shane schließlich eine Bedenkzeit. Helena nickte eifrig, wusste sie doch genau, dass sie ihn schon in der Tasche hatte.

Inzwischen hatte sich Lethe durchgerungen, Darrel nach ihrer Vergangenheit zu fragen.
Sie atmete tief durch, nachdem sie und Darrel sich begrüßt hatten.
„Die Frage muss sich für Dich ganz furchtbar töricht anhören.“ Sie rang mit den Händen. „Ich weiß auch nicht warum ich dazu komme und wahrscheinlich ist das alles nur Einbildung.“
Darrel sah sie mit offenem Gesichtsaudruck an. Dass seine Gedanken rasten und er fast in Angstschweiß ausbrach, sah man ihm nicht an.
„Ich … ich habe manchmal das Gefühl, dass wir uns von früher kennen.“ Schnell sah Lethe zu Boden. Das war so peinlich! Aber sie wollte endlich Gewissheit haben.
„Wir uns von früher kennen?“, echote Darrel und er klang furchtbar erstaunt. Doch in seinem Kopf sah es anders aus. ‚Verdammt sie weiß es! Die Erinnerung kommt zurück!’
„Ich wusste, dass es eine blöde Idee war, Dich damit zu belästigen!“



„Ach Lethe, glaubst Du nicht, dass ich es euch gesagt hätte, wenn ich Dich von früher kenne würde?“ Darrel klopfte Lethe aufmunternd auf die Schulter. Er musste sich zurückhaltend ihr nicht auf der Stelle den Hals umzudrehen. „Es tut mir wirklich leid! Ich wünschte ich könnte Dir helfen, dass Du endlich Dein Gedächtnis wiederfindest.“
Lethe nickte niedergeschlagen. Sie raffte sich zu einem dankbaren Lächeln auf und verabschiedete sich schnell, damit Darrel nicht ihre Tränen sah.
Darrel sah Lethe nach. Seine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten.
‚Verdammt. Kann sie nicht einfach immer Lethe bleiben? Muss sie sich ausgerechnet jetzt erinnern?’ Abrupt drehte er sich um und ging ins Haus. ‚Ich muss handeln.’

„Du wirkst in letzter Zeit sehr abwesend.“
Lethe hatte ein paar Tage später kurz bei Erin und Chris reingeschaut um sich ein Buch auszuleihen. Sie und Erin waren inzwischen sehr gut befreundet, denn Lethe war die einzige in der ganzen Stadt, die Erins Geisterhaftigkeit so gar nicht verwunderlich fand.
Lethe errötete, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Ach.“, sagte sie und winkte ab. Das der Besuch bei Darrel auch so nach hinten losgegangen war! Sie hätte es gar nicht erst versuchen sollen.
„Du hast Probleme mit dem Nichtwissen.“ Der Blick aus Erins durchsichtigen Augen richtete sich scharf auf Lethe. Diese zuckte mit den Schultern. „Sie haben mir gesagt, dass Deine Erinnerung wieder kommen wird. Besonders wenn es wichtig wird!“
„Sie?“
Erin sah sich um und beugte sich dann vor, um in konspirativem Tonfall Lethe zuzuflüstern: „Du wirst Dich bald erinnern!“ Dann schwebte sie ohne weitere Worte von Lethe fort und verschwand durch die Wand.
Perplex starrte Lethe ihr hinterher. Als Erin nach ein paar Minuten nicht wiederkam, nahm Lethe das Buch und machte sich zu Fuß auf den Heimweg.