Akkis Sunset Valley

Auszug aus dem Bericht des Jugendamtes über Marisol Olivas

[…]Miss Olivas ist nach der einhelligen Aussage ihrer Kollegen und Kolleginnen eine verantwortungsbewusste Lehrkraft. Die Schülerinnen und Schüler ihrer Klassen erreichen durchgehend gute Noten und melden sich häufiger zu AGs und Kursen an als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Der Direktor der Schule ist ebenfalls sehr zufrieden mit Miss Olivas. Miss Olivas bereite sich stets gut vor, sei freundlich und zuvorkommend und habe einen besonders guten Draht zu den S.u.S. […]

[…] Miss Olivas lebt bescheiden in einem sehr aufgeräumten und sauberen Haus in der Nachbarschaft ihrer Eltern und anderer Verwandter. Sie ist fest in die Gemeinschaft eingebunden.[…]

[…] Das Kind Lainey Jennings hat sich seit sie bei Miss Olivas untergebracht ist, hervorragend entwickelt. Sie ist gesund und eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse.[…]

[…]komme ich zu dem Schluss, dass dem Adoptionsantrag in der Sache Olivas/Jennings stattgegeben werden sollte.

Gezeichnet Martha Luz

„Das sind die Aufzeichnungen von Mrs. Luz. Sie hat sie noch alle für Sie zusammengestellt, bevor sie ins Krankenhaus gegangen ist.“ Der Vorgesetzte schob eine mitteldicke Akte über den Tisch.
„Wirklich schlimm, dass ausgerechnet die gute Mrs. Luz Brustkrebs bekommen hat.“, bemerkte sein Gegenüber. Er schlug die Akte auf und überflog die ersten Seiten.
„Trifft die Besten zuerst. Dann kommen wir mal zu den übrigen Fällen, die sie übernehmen sollen.“
„Gewiss.“

Seufzend löste der Babysitter den gelben Post-It von der Kühlschranktür. Die gesamte Kommunikation im Hause Thomas lief über die kleinen Zettel ab. Was würden Jeremy und Corinne Thomas nur ohne Post-its machen?

Erwin,

bitte lass Myra kein Fernsehen gucken. Nach dem letzen Mal hat sie uns die ganze Nacht wach gehalten. Mittag- und Abendessen stehen im Kühlschrank. Jeremy wird gegen 19.00 Uhr heim kommen. Dein Geld liegt wie immer in der Besteckschublade.

C. Thomas.

Unter Corinnes Zettel klebte ein weiterer:

Hi Erwin,

ich muss heute zu einer Fortbildung. Deswegen werde ich es wohl nicht bis 19.00 Uhr schaffen wie Corinne wahrscheinlich angekündigt hat. Kannst Du länger bleiben? Geld liegt unter der Zuckerdose. Ich hab Dir auch eine Tüte Nachos gekauft.

Gruß Jeremy.

„Tja, Süße. Sieht so aus, als hätten wir wieder eine Menge Zeit für uns.“, sagte Erwin und warf beide Zettel in den Müll. Er hob Myra auf und kitzelte das kleine Mädchen. „Wir gehen dann mal in den Park.“



Guten Morgen Schatz!

Ich fahre heute früher raus, weil mir das Motorengeräusch des Löschzuges nicht gefällt. Ich hab Dir Pfannkuchen gemacht, die sind im Kühlschrank. Bin wie immer gegen 19.00h zuhause.
Ich liebe Dich
Jeremy



Schatz,

Ich hab Myra heute zu Deiner Schwester gebracht, weil Erwin lernen muss und ich noch mal ins Rathaus fahre. Der Pfannkuchen war lecker! Im Kühlschrank ist noch Salat, den habe ichaus dem Bistro mitgenommen, keine Zeit zum Kochen.

Ich liebe Dich auch
Corinne



Hey Schatz,

ich bin schon mal schlafen gegangen. Zu welcher Schwester?? Nein, Spaß beiseite, Myra übernachtet heute bei Helena. Wenn Du magst kannst Du mich ja wecken wenn Du heimkommst!

Jeremy

Guten Morgen Schatz,

Du hast mich nicht geweckt! Verräterin . Denk dran, ich fahre heute Abend mit den Jungs ins Stadion. Erwin kann heute aber nicht länger bleiben, notfalls muss er Myra zu Shane bringen. Schreib ihm einen Zettel!
Ich liebe Dich
Jeremy

Diesen Zettel riss Corinne lächelnd ab. Sie würde heute extra früher Schluss machen um mit Myra in den Park zu gehen. Erwin würde keine Überstunden machen müssen.

Noch nicht ganz im Haus, rief Corinne schon: „Erwin? Ich bin wieder da! Es tut mir furchtbar leid, ich weiß das ich gesagt habe, ich sei früher da aber … Erwin?“ Corinne legte den Schlüssel ab und sah sich um. „Hallo?“ Weder von Erwin noch von Myra war etwas zu sehen. In ihrer Handtasche vibrierte ihr Handy. Wahrscheinlich war es immer noch Lauren, die versuchte schon den ganzen Tag sie zu erreichen.
„Später.“, murmelte Corinne als sie aufs Display geschaut hatte und das Handy weitervibrieren ließ. Sie ging zum Kühlschrank wo immer die Post-Its aufgeklebt wurden.

Hi Corinne,

es tut mir leid, ich konnte nicht länger bleiben, aber ich habe doch den Zahnarzttermin! Ich habe Myra zu Ihrem Schwiegervater gebracht. Sorry!

Liebe Grüße
Erwin

Nun, da konnte sie dem Jungen keinen Vorwurf machen. Tatsächlich hatte sie sogar ein schlechtes Gewissen. Sie nutzten den guten Jungen ziemlich aus. Vielleicht sollte mal ein Bonus drin sein? Innerlich die Pro und Contras abwiegend, ging Corinne zum Telefon und wählte Shanes Nummer.
Niemand nahm ab. Ein ungutes Gefühl beschlich Corinne. Als erneut ihr Handy vibrierte und wieder Laurens Nummer erschien, nahm sie ab.



„Wie geht es ihm?“ Atemlos, mit hektischen roten Flecken am Hals und Dekolletee stürmte Corinne an ihrem Schwiegervater und ihrer Schwägerin Lauren vorbei zu Chris Aldridge, der nicht nur der Freund ihrer Schwägerin Helena, sondern auch Chirurg war.
Chris legte einen Finger auf die Lippen und deutete mit dem Kopf auf die Tür des Krankenhauszimmers. „Er muss sich von der OP erholen. Kommt wir gehen in mein Büro.“ Mit einer Armgeste lud er Shane und Lauren ein sich anzuschließen.
Die vier betraten Chris’ Büro. Es herrschte das übliche Chaos vor, den Chris war weder besonders ordentlich noch wirklich organisiert. Es wunderte viele, dass ein so begnadeter Chirurg außerhalb des OP-Raumes ein vollkommen hysterischer Chaot sein konnte.
Chris räumte ein paar Akten und medizinische Fachbücher von den drei wackeligen Besucherstühlen und setze sich selbst auf das letzte freie Plätzchen seines Schreibtisches.
„Das wichtigste: Im Moment ist Jeremy außer Lebensgefahr.“, eröffnete Chris und begann seine Langen, schlanken Finger zu mustern.
Shane und Lauren atmeten erleichtert aus. Lauren klopfte Corinne auf die Schulter, doch diese fixierte Chris. „Da schwingt ein aber mit, Chris.“
Der nickte und fuhr mit der Musterung seiner Finger fort. Er war sich Corinnes stählernen Blickes sehr bewusst. Warum musste er nur immer solche Gespräche führen? Konnte das nicht jemand anders machen? Er war nicht gut darin. ‚Lieber operier’ ich im Akkord Blindarmentzündungen als das hier!’, dachte er.
„Jeremy hat bei dem Unfall verschiedene Verletzungen erlitten. Die inneren Blutungen haben wir durch die OP in den Griff bekommen. Er hat einen Schädelbruch, mehrere gebrochene Rippen und … und das Rückgrat hat auch was abbekommen.“
„Auch was abbekommen? Führ das aus!“
„Wir müssen erstmal abwarten wie er die OP überstanden hat. Dann müssen wir Tests durchführen.“ Er sah von seinen Fingern auf und erwiderte Corinnes Blick. „Ich kann noch keine genaue Diagnose geben, aber möglicherweise wird Jeremy auf Dauer eingeschränkt sein. Wie eingeschränkt, wird sich zeigen.“
„Eingeschränkt?“, fragte nun Shane mit großen Augen. „Meinst Du damit er … meinst Du Jeremy wird nicht mehr laufen können?“
„Im schlimmsten Fall: ja. Aber das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wir werden in den nächsten Tagen genaueres sagen können.“

„Hey.“ Corinne öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte ins Krankenzimmer. Jeremy lag auf dem Bett und zwang sich zu einem Lächeln.
‚Gott sei Dank sind die Schläuche weg.’, dachte Corinne als sie zu Jeremy ging und ihm einen Kuss auf die Stirn gab. „Du siehst heute viel besser aus.“ Dann zog sie ein Blatt aus der Handtasche. „Das hat Myra für Dich gemalt.“
Es waren kaum mehr als ein paar bunte Striche und unebenmäßige Kreise, aber Jeremy stiegen die Tränen in die Augen. „Ich vermisse unsere Kleine.“



„Vielleicht kann ich sie nun ja mal mitbringen?“
Doch Jeremy schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass sie mich so sieht.“ Er sah finster aus und musste sich erneut zu einem Lächeln zwingen. „Die Physiotherapeutin war heute sehr zufrieden mit mir.“
„Das ist doch prima! Du wirst sehen, bald springst Du wieder mit Myra durchs Haus!“, versuchte Corinne ihren Mann aufzumuntern. Sie merkte selbst wie hohl ihre Worte klangen.

Chris fuhr an diesem Abend bei Corinne vorbei.
„Wird er wieder laufen können?“, fragte Corinne den Arzt geradeheraus, nachdem sie ihn ins Haus gebeten hatte.
Chris nickte. „Ja. Aber er wird eine ganze Weile sehr beeinträchtigt sein.“ Wieder sah er auf seine Finger – es war ein regelrechter Tick. „Er wird nicht mehr als Feuerwehrmann arbeiten können. Genauer gesagt: Er wird vorerst keiner Arbeit nachgehen können, bei der er mehr als ein Blatt Papier heben muss, länger als eine halbe Stunde stehen muss oder sich bücken, strecken oder das Rückgrat in einer anderen Weise fordern muss.“



„Oh.“ Corinne fasste sich an die Brust. „Oh.“
„Wenn er natürlich alle Reha-Maßnahmen ausübt und sich weiterhin alles gut entwickelt, wird sich das ändern können. Er sollte zwar nie Gewichtheber werden, aber mit der Zeit können wir seinen Rücken hoffentlich stabilisieren.“
Corinne warf einen Blick auf die geschlossen Kinderzimmertür. „Dann wird er wohl nicht in nächster Zeit mit Myra durchs Haus tollen?“
Chris senkte den Kopf. „Nein. Der Autounfall war ziemlich übel, Corinne. Er kann froh sein, dass es überhaupt so glimpflich abgegangen ist.“
„Das ist natürlich sehr tröstlich.“, sagte Corinne und brach in Tränen aus.

Eine salzige Träne tropfte auf das dünne Papier der billigen Kladde und verschmierte die Tinte. Peony schniefte geräuschvoll und zog die Nase hoch. Dann setzte sie den Kugelschreiber wieder an.

Jasper hat eine Freundin und in nicht allzu ferner Zukunft wird sie seine Frau!

Das u von Frau zog sich tief über die Linie und brach dann unvermittelt ab. Peony klappte die Kladde, die schon ganz feucht von ihren Tränen war, unter ihr Kissen und zog die Bettdecke bis über die Nasenspitze.

Poppy öffnete leise die Zimmertür. „Du hast Besuch.“
„Geh weg.“, schluchzte ihre Schwester und Poppy verdrehte die Augen. Sie ging zum Bett ihrer Schwester und zog ihr die Decke weg. „Nun steh schon auf. Jaden steht vor der Tür. Es lohnt sich außerdem nicht wegen Jasper rumzuheulen.“ Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüfte. Peony griff nach ihrer Decke und funkelte Poppy an. „Was weißt Du schon davon! Ich sterbe gerade an gebrochenem Herzen!“ Sie riss an der Decke und zog sie über den Kopf.



„Geh weg!“, forderte sie ein zweites Mal und nachdem Poppy entnervt die Luft ausgestoßen hatte, ging die Jüngere tatsächlich. Nachdem die Tür geschlossen worden war, zog Peony ihre Kladde hervor.

Das schlimmste ist, Marsha Berger, die FRAU an Jasper Seite ist ALT! Sie hat schon ganz viele graue Strähnen und ist bestimmt älter als Madam Mondstrahl! Wie kann Jasper das nur tun? Ich dachte er würde mich auch mögen, denn er war doch so oft hier und hat mir geholfen! Und jetzt will er diese alte Schachtel heiraten! Die kann ihm doch nie Kinder schenken!



Peony fing erneut an zu schluchzen. Vor ihrem Fenster hörte sie Poppy mit Jaden sprechen. Schnell stopfte sie ihre Faust in den Mund, damit man sie nicht heulen hörte. Sie konnte Jaden nicht unter die Augen treten. Er war zwar inzwischen ihr bester Freund, mehr noch als die Zwillinge der Familie Aldridge, aber vor allem war er Jaspers Bruder und Peony wollte keinen der Familie sehen.
Sie überlegte kurz, ob sie sich das Kopfkissen über die Ohren stopfen sollte, aber dann schnappte sie einen Gesprächsfetzen auf. Wenig später schrieb sie in ihr Tagebuch:

Seit Jasper mit Marsha zusammen ist, ist Poppy auch nicht mehr so gut auf Jasper zu sprechen. Ich dachte das liegt an meinem Kummer oder vielleicht noch, weil sie Jasper auch so mag, aber sie plagen ganz andere Sorgen! Als Jasper die Feier zu seiner Beförderung gegeben hat und uns auch eingeladen hat (und ich Marsha kennengelernt habe), ist sie wohl mit ihm aneinandergeraten. Es ging irgendwie um seine Mutter. Die ist ja verschwunden und im Gegensatz zum Rest der Familie, ist Jasper deswegen sauer. Poppy war von seinen harten Worten betroffen und hat seit dem auch nicht mehr mit Jasper getroffen.
Das hat sie gerade Jaden erzählt. Der hat sie nämlich gefragt, warum sie auch so mies drauf ist. Er weiß, dass mein Herz gebrochen ist. So ein treuer Freund! Naja, Poppy hat sich bei ihm auch ausgeheult – nur dass sie nicht weint. Das tun sie und Basil schon ewig nicht mehr. Jaden hat sich Poppys Beschwerde über Jasper ruhig angehört und ich konnte förmlich sehen, wie er betrübt mit dem Kopf nickte, wie er es immer tut. Dabei sitze ich immer noch im Bett und Jaden und Poppy stehen vor der Tür. Dann hat Jaden um Poppys Verständnis für Jasper geworben, aber auch ihr zugestimmt. Er ist immer so harmonie-süchtig und versucht jeden Streit zu schlichten! Er hat dann gesagt, dass er eine zeitlang auch böse auf die Mutter gewesen sei, weil sie weg war, aber inzwischen sei er höchstens traurig, weil sie nicht da ist. Jetzt schweigen die beiden sich an. Jaden will wohl hier Wurzeln schlagen! Vielleicht sollte ich doch mal aufstehen.

SUNSET VALLEY – xx-xx-xxxx – Vormittags

Erwarte jeden Moment einen Anruf der Agentur. Kämpfe solange mit den W.-Maschinen im Waschsalon – unsere Maschine ist kaputt.




SUNSET VALLEY – xx-xx-xxxx – Nachmittags

Kann endlich wieder meine Trekkinghose und das gammlige Halstuch rausholen! Morgen früh fliege ich nach Ägypten. Fotoserie über alte Tempel.




EGYPT – xx-xx-xxxx – Morgens

Mehrer GB im Tempel des Lebens verschossen – tolle Architektur und ausgeklügelte Bewässerungsanlage – muss mich bei Simipedia darüber informieren.




War heute Abend bei meinem ägyptischen Kontaktmann essen. hat einen sehr schnuckeligen Sohn, Farid. Haben Emailadressen ausgetauscht.

SUNSET VALLEY xx-xx-xxxx
Home sweet home. Mom scheint meine Abwesenheit sehr speziell zu nutzen. Ein bisschen Bettakrobatik schadet wohl auch den beiden nicht.



SUNSET VALLEY xx-xx-xxxx

Angesteckt von Moms und Shanes Turtelei habe ich Farid eingeladen.



Wir hatten eine menge Spaß, aber er ist früher wieder abgefahren als gedacht.

SUNSET VALLEY xx-xx-xxxx

Ups. Farid hat was dagelassen. Und Shane auch. Zeit in die eigenen vier Wände zu ziehen. Habe das Grundstück nebenan gekauft.



SUNSET VALLEY xx-xx-xxxx

Lebe jetzt allein und warte auf mein Baby. Meine neue Schwester oder mein neuer Bruder bekommt mein neues Zimmer, damit kein Streit zwischen Gideon und Sammy ausbricht.



SUNSET VALLEY xx-xx-xxxx

Walter Teitel, geboren am xx-xx-xxxx, 3.498 kg, 53 cm. Ging erstaunlich einfach. Denke darüber nach ein Email an Farid zu schicken.

Gigantische Flutwelle verwüstet Sunset Valley - Idyllisches Küstenstädtchen ist zerstört.

An diesem Wochenende wurde das malerische Sunset Valley von einer Naturkatastrophe heimgesucht. Ausgelöst durch ein schweres Seebeben im Nordatlantik walzte eine gewaltige Welle auf das Festland zu. Dank moderner Frühwarnsysteme konnten die meisten Bewohner des Städtchens in Sicherheit gebracht werden.
Doch sie werden nicht in ihre Heimat zurückkehren können, denn in dort steht kein Stein mehr auf dem anderen. Zur Zeit dienen verschiedene Schulen der nicht betroffenen Nachbarorte als Auffanglager für die obdachlos gewordene Bevölkerung von Sunset Valley. Wo sie jedoch in Zukunft wohnen werden, steht noch nicht fest.

Liebes Tagebuch,

Peony betrachtete zufrieden den feinen Strich des Füllers auf dem festen, weißen Papier. Liebevoll strich sie über die Oberfläche ihres neuen Tagebuchs, das nicht rosa, sondern orange war, aber all ihre Vorstellungen (die sonst so standhaft leugnete) eines Tagebuchs erfüllte. Dazu war es ein Geschenk. Sie setzte erneut an.

Liebes Tagebuch,

leider bist Du in Deiner alten Fassung ertrunken. Genau wie meine anderen Sachen. Am Ende sollte sich doch beinahe bewahrheiten was ich vor einiger Zeit geschrieben habe: ich glaube ich werde sterben. Komisch, dass ausgerechnet dieser Satz mir so in Erinnerung geblieben ist! Mein Herz ist immer noch wund und ich werde mich bestimmt nie wieder so verlieben können wie in Jasper, aber der ist nun eh mit seiner blöden alten Frau und den gekauften Kindern weggezogen. Aber vielleicht sollte ich noch einmal von vorne beginnen!


Inzwischen ist es schon ein paar Monate her, dass unser gemütliches Sunset Valley Opfer einer Flutkatastrophe geworden ist. Unser örtliches Wissenschaftsinstitut hat uns zum Glück rechtzeitig gewarnt, so dass wir alle in das Footballstadion des Nachbarortes gebracht wurden. Wir konnten kaum das nötigste mitnehmen! Die ganze Zeit über habe ich Poppy und Basil umklammert, damit sie mir nicht verloren gehen in dem Gedränge. Unsere sonst so zivilisierten Nachbarn haben sich wie Schafe bei einem Gewitter aufgeführt: absolut kopflos! Irgendwann kam ein bisschen Ruhe ins Stadion und da musste ich feststellen, dass ich zwar meine Geschwister noch bei mir hatte, Madam Mondstrahl aber verschwunden war! Auf seine trockene Art, meinte Basil nur: „Das war ja zu erwarten.“, und Poppy stimmte ihm zu: „So unbedacht wie sie ist, ist sie bestimmt ertrunken.“ Ich stand eine geschlagene Minute vor den Kindern und starrte sie mit offenem Mund an! Zugegeben - mir ist ähnliches durch den Kopf gegangen, aber wie können zwei kleine Kinder, die gerade mal das Einmaleins beherrschen sollten (ich glaube sie sind beide viel, viel weiter) so nüchtern und herzlos über ihre Mutter sprechen (auch wenn die nie irgendetwas getan hat, um sich als Mutter auszuzeichnen)?! Mein Gesicht und mein Schweigen sprachen wohl Bände, denn die beiden wechselten diesen Oh-wir-wurden-erwischt-Blick, den ich häufig bei ihnen bemerke. Bevor ich eine Anmerkung machen konnte, überfuhr mich Poppy mit der Feststellung, dass uns nun bestimmt das Jugendamt holen würde. Ich war geschockt! Das Jugendamt! Nächtelang hatte ich schon immer aus Angst vor dem Jugendamt wach gelegen, aus Furcht, dass ich und die beiden Kleinen ins System kommen! Aber seit wir in Sunset Valley wohnten, hatte sich diese Angst gelegt – Madam Mondstrahl benahm sich zwar nach wie vor nicht wie eine Mutter, aber immerhin hatten wir ein ziemlich normales und geregeltes Leben.
Ich hatte meinen Schrecken kaum überwunden, da kam auch schon irgendjemand von der Gemeindeverwaltung oder so und fragte, wo unsere Eltern sei. Ich sah mich schon im Heim, getrennt von meinen merkwürdigen Geschwistern die bestimmt in irgendeiner Erziehungsanstalt landen würden, als ich Poppy mit zuckersüßer Stimme flöten hörte: „Unsere Mommy sucht uns gerade etwas zu trinken. Solange passt unsere große Schwester auf uns auf.“ Sie hängte sich an meinen Arm und sah den Mann aus großen, seelenvollen Augen an. Ich konnte nur trocken schlucken und nicken.
„Sie kommt bestimmt bald wieder.“, ergänzte Basil und sah gutgelaunt durch die Gegend. „Das ist ja so spannend! Meinen Sie wir können bald wieder nach Hause?“
Der Mann – von zwei so freundlichen Kindern sichtlich angetan, vertröstete uns auf später und ließ und einen Zettel für unsere Mutter da. Darauf hätte sie einiges ausfüllen müssen und ich versprach mit heiserer Stimme, dass ich es ihr geben würde, sobald sie wiederkäme.
Nachdem der Mann in der Menschenmenge verschwunden war, nahm sich Basil das Blatt aus meiner schlaffen Hand und ehe ich mich versah, saßen die beiden Kinder darüber gebeugt und begannen es mit dem Kuli, den der Mann ebenfalls dagelassen hatte, auszufüllen. „Ähm…“, wollte ich beginnen, doch beide sahen mich an und schüttelten synchron den Kopf. Dann fuhren sie fort das Dokument auszufüllen.

Ein paar Stunden später kam der Mann wieder. Poppy war gerade auf Toilette gegangen und so log Basil glatt, dass sie von unserer Mutter begleitet wurde. Der Mann sammelte das Dokument ein und strich Basil über dem Kopf, was er mit einem gutmütigen Lächeln quittierte. Als wir wieder allein waren, sagte ich: „Manchmal machen Du und Poppy mir Angst.“ Da lachte mein kleiner Bruder nur.

Wir schafften genau eine Woche lang so zu tun als ob Madame Mondstrahl nur mal eben weg wäre. Dann kam der Mann von der Gemeindeverwaltung. Er hob scheltend den Finger und sah nicht mehr so freundlich und angetan von uns aus. Inzwischen waren die meisten anderen Bewohner schon abgereist – ich glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht daran, dass jemals jemand nach Sunset Valley zurückkehren würde.
„Ihr habt mich ganz schön an der Nase herumgeführt.“, eröffnete er das Gespräch. Poppy ließ das süße Lächeln weg und Basil schob trotzig das Kinn vor. „Wo ist eure Mutter?“
Dieses Mal war ich es die antwortete. Poppys und Basils Lügerei hatte uns das Jugendamt zwar eine Weile vom Hals gehalten, aber früher oder später mussten wir mit offenen Karten spielen.
„Wir wissen nicht wo unsere Mutter ist. Wir hatten gehofft, dass sie bald wieder zu uns findet, aber sie ist verschwunden.“, erklärte ich und versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln. Leider bin ich nicht so süß wie Poppy, so dass mich der Mann nur böse ansah.
„Dann hast Du wohl das Dokument gefälscht? Dir ist wohl klar, dass das ein Verbrechen ist?“ Er baute sich von mir auf und ich wich unwillkürlich zurück. Von Deo hielt der Mann zumindest nichts.
„Das war ich!“, fuhr Basil dazwischen und nicht nur ich sondern auch Poppy sahen ihn überrascht an. „Ich bin noch nicht einmal 12, von daher können Sie mich nicht belangen. Anstatt zu versuchen uns einzuschüchtern, könnten Sie uns mitteilen, was nun mit uns passiert.“
In diesem Moment trat eine Frau hinzu. An ihr schrie alles nach Jugendamt. Poppy und Basil fassten mich jeweils an der Hand und rückten ganz nah an mich.
„Nun, Mr. Miller, ich glaube Sie haben den dreien genug Angst eingejagt. Sie können getrost mir das Feld überlassen.“, sagte sie und klang dabei nur halb so bedrohlich wie sie aussah.
„Pff. Lass mich nicht gerne von Dreikäsehochs an der Nase herumführen…Also gut ich bin dann mal weg.“ Er verzog sich und die Frau bedachte uns mit einem aufrichtigen Lächeln.
„Hallo. Ich bin Amanda Hurst vom Jugendamt.“ Wir schwiegen sie an und ihr Lächeln wurde etwas verkrampft. Trotz ihres Outfits schien sie noch halbwegs menschlich zu sein und war unsicher wie sie mit unserer schweigenden Front umgehen sollte. „Ähm…ok. Nachdem eure Mutter verschwunden zu sein scheint und bei keinem von euch ein nächster Verwandter angegeben wurde, kommt ihr vorerst in meine Obhut. Wir finden schon Familien, die sich um euch kümmern werde.“
„Nein.“, sagte Basil bestimmt. „Das werden Sie nicht.“
Poppy warf ihm einen warnenden Blick zu und sie trugen eines ihrer schweigenden Blick-Gespräche aus. Ms. Hurst sah mich fragend an und ich beeilte mich zu sagen, dass wir auf keinen Fall getrennt werden wollten. Sie wollte etwas erwidern, als sie plötzlich vom halben Aldridge-Clan umlagert war: Jaden und seine Schwestern Leo, Lea und Leta schienen auf dem Nichts aufgetaucht zu sein. Sie waren allesamt außer Atem und die Mädchen schnatterten wild durcheinander auf Ms. Hurst ein, die ob dieser Teenager-Invasion überfordert wirkte. Jaden warf mir währenddessen einen aufmunternden Blick zu. Ich hatte keinen der Aldridges seit der Evakuation gesehen – sie waren ziemlich bald in ein Hotel gezogen. Im Footballstadion waren inzwischen nur noch wir und ein paar Pendler die in Sunset Valley gewohnt hatten belieben, während der harte Kern längst seiner Wege gegangen war.
Jaden sorgte dafür, dass seine Schwestern den Mund hielten, die darauf zu mir und den Kindern kamen. Die Zwillinge umarmten mich und Leta zog allen Ernstes ihr Handy aus der Tasche und machte Fotos. Jaden sprach eindringlich auf Ms. Hurst ein und schließlich kam der Vater der Aldridge-Bande auf uns zu: Jacob Aldridge durchmaß den Raum mit würdevollen Schritten und sah trotz seines Alters sehr agil und maskulin aus. Neben mir stieß Poppy ihren Atem aus und krallte sich geradezu in meinen Arm. Basil zischte ihr leise etwas zu.
„Gute Tag.“, begrüßte Jacob Aldridge Ms. Hurst mit einem aufgeräumten Lächeln. „Mein Name ist Jacob Aldridge. Ich bin ein Freund der Familie und habe so eben erst erfahren, dass Babette verschwunden und ihre drei Kinder ganz alleine sind.“ Er wandte sich uns zu: „Ist alles ok bei euch?“
Wir nickten und von da an entwickelte sich alles einfach unglaublich!

Peony machte eine Pause und blies sanft auf das Papier. Immer noch ungläubig sah sie sich in ihrem neuem Zimmer um während sie ihr Handgelenk lockerte. Jacob hatte Ms. Hurst mit einer unglaublichen Charmeoffensive niedergewalzt und die drei Kinder mit ins Hotel genommen. Anschließend hatte er beim Jugendamt das vorläufige Sorgerecht für die Hill-Kinder beantragt, was ihm beinahe sofort gewährt wurde – drei Kinder weniger, für die der Staat aufkommen musste. Währendessen hatte er außerdem den Bau eines neuen Hauses in Sunset Valley geplant – für ihn kam nicht in Frage wo anders hinzuziehen. Allerdings konnte er nicht auf der Klippe auf der sein Elternhaus gestanden hatte bauen: Wohnhäuser durften nur noch hinter dem ehemaligen Central Park (der zwar weiterhin so hieß, aber nicht mehr zentral gelegen war) weiter im Landesinneren gebaut werden.





Außer Jacob Aldridge und den vier im Haus verbliebenen Kindern würden noch Jacobs Schwester Ashley mit ihrem jüngsten Sohn Matthew, dessen Vater Shane und dessen Kindern Lauren und Will (die verwirrenderweise auch Ashleys Nichte und Neffe waren, da Shanes verstorbene Frau ihre Halbschwester war) sowie die Schwestern Monica und Manuela Olivas, ebenfalls Nichten von Jacob und Ashley, in Sunset Valley bleiben.
Die meisten ehemaligen Bewohner hatten sich jedoch gegen eine Neuansiedlung in Sunset Valley entschieden.

Jasper Aldridge (ältester Sohn von Jacob Aldridge und Schwarm von Peony) zog mit seiner Frau Marsha und den beiden Kindern Enriqa und Fleming nach Washington um dort seine politische Karriere voranzutreiben.

Jason Aldridge (zweitältester Sohn von Jacob Aldridge), seine Cousine Amy Cope (zweitälteste Tochter von Shane Cope) und der gemeinsame Cousin Sammy Teitel (zweitjüngstes Kind von Ashley Sanders) folgten dem Ruf des Ruhmes und versuchen als Musiker ihr Glück in New York.

Eloise Teitel (älteste Tochter von Ashley Sanders; trägt den Nachnamen ihres verstorbenen Vaters) zog mit ihrem Sohn Walter und ihrem jüngeren Bruder Gideon nach Ägypten zum dort lebenden Vater Walters.

Jeremy Thomas (Stiefsohn von Shane Cope), seine Frau Corinne und die gemeinsame Tochter Myra sind nach Kanada übergesiedelt, da das dortige Gesundheitssystem als das bessere gilt und Jeremy hofft, sich dort endgültig von den Folgen seines Autounfalls zu erholen.

Peony wollte schon den nächsten Satz in ihr Tagebuch eintragen, als ein gellender Schrei durch das Haus hallte. Erschrocken ließ sie den Füller fallen und war schon halb aufgesprungen, als auf den Schrei lautes Gelächter antwortete. Peony ließ sich wieder in den Stuhl fallen. Wahrscheinlich hatte Leta eine ihrer Schwestern überrascht. Das Mädchen konnte einfach nicht ernst sein! Dauernd heckte sie irgendeinen Streich oder Spaß aus.


Inzwischen hat Mr. Aldridge das Sorgerecht für uns drei erhalten. Es gibt ja keine Väter die es ihm streitig machen wollten! Natürlich sollen wir jetzt Jacob zu ihm sagen und mir fällt das auch ziemlich leicht, aber die beiden Kinder haben da irgendein Problem mit. Generell mache ich mir Sorgen um sie. Zunächst dachte ich, es läge daran, dass sie nun nicht mehr in einem Zimmer schlafen – jeder von uns hat ein eigenes Zimmer, das sogar in unseren Lieblingsfarben gehalten ist! – aber ich glaube es liegt an etwas anderem. Vielleicht weil sie bald zu Teenagern werden. Oder weil ihnen doch irgendwie Madame Mondstrahl fehlt.
Ich denke komischerweise sehr selten an sie und manchmal befürchte ich herzlos zu sein. Aber Jaden meint, es wäre nicht wirklich herzlos von mir, denn sie hat sich ja nie um uns gekümmert.

Poppy und Basil sondern sich auch ab und verbringen viel Zeit draußen am Schachtisch. Es ist sehr wichtig für sie alleine zu sein und nicht von uns Älteren belagert zu werden. Jacob versucht immer mit den beiden altersgemäß umzugehen, aber das treiben sie ihm bestimmt noch aus. In der Hinsicht sind sie nicht wirklich normal und ich frage mich oft woran das liegt.



Es klopfte an Peonys Zimmertür und sie schloss schnell ihr Tagebuch. Leta steckte ihren Kopf ins Zimmer.
„Hey, kommst Du? Wir wollen Dir doch was Neues zum Anziehen kaufen!“ Sie grinste voller Vorfreude.
Peony unterdrückte ein Stöhnen. Tagelang hatte Leta ihr in den Ohren gehangen und schließlich hatte sie ihr nur zugestimmt, damit sie endlich Ruhe gab. Nun wollte Leta sie shoppen schleppen.