Rockland Jess

Es gibt keine Erklärung, warum diese Katastrophen geschahen, keine wissenschaftliche, keine epische, es gibt keine Erklärung. Es geschah einfach.
Regen voller Asche, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Stürme – innerhalb von wenigen Stunden hatte sich die Welt verändert.


Geliebte Menschen waren verloren, Eigentum unwiederbringlich zerstört. Die Großstädte erholten sich schneller als die kleinen Dörfer. Vorräte mussten eingeteilt werden und den Menschen wurde nahegelegt ihre kleinen meiste verfallenen Häuser auf dem Land zu verlassen und in die einigermaßen erhalten gebliebenen Städte zu ziehen.
Nicht alle kamen diesem Ruf nach.

Kurz nach den Katastrophen wurden die Hilferufe an die Magier laut. Jahrzehntelange lebten Menschen und Magier nebenher ohne gegeneinander auszunutzen oder zu beherrschen. Doch nun wurde dessen Hilfe benötigt, alleine würden die Menschen ihre Welt nicht wieder aufbauen können.
Allerdings erfasste die Welt mit den Katastrophen ein Impuls, vielleicht der Auslöser all dessen, der die Magier fast gänzlich ausrottete. Lediglich der Alt-Magier Mephisto überlebte, da er sich bereits vor Jahren in ein Versteck tief im Eis zurückgezogen hatte. Er kam zurück in die Welt und reiste in der Hoffnung seinesgleichen irgendwo zu finden. Alleine würde es ihm nicht gelingen viel zu bewegen, so mächtig er auch war.
Es dauerte nicht lange bis er feststellte, dass überall auf der Welt Kinder mit magischen Fähigkeiten auftauchten, reine und ungeschliffene Diamanten. Ohne lange zu zögern, sammelte er sie ein und gründete eine Akademie, wo er die Kinder ausbilden würde, als dann sie in die Welt ausziehen konnten, um den Menschen beim Wiederaufbau zu helfen.
Doch bis es soweit war, mussten sich die Menschen selber helfen, lediglich hin und wieder mit Mephistos Unterstützung.

Zwölf Jahre später war ihre Ausbildung abgeschlossen und sie machten sich auf, zu den ihnen nach Fähigkeiten zugeteilten Städten und Dörfer, um einen Neubeginn herbeizuführen. Mephisto selber hatte sein Möglichstes getan, war am Ende seiner Kräfte und zog sich wieder zurück.

Prolog


Hope – den Namen trugen sie alle, denn sie waren die Hoffnung der Welt. Sie alle hatten zwölf harte Jahre der Ausbildung und Prägung hinter sich, um nun der Bestimmung zu folgen. Und es war wahrlich ihre Bestimmung, denn keiner von ihnen war ein geborener Magier gewesen. Die Magie war mit den Katastrophen gekommen.


Seth Hope war auf dem Weg nach Rockland Jess, eins der wenigen Dörfer, dessen Bewohner es nicht aufgeben wollten.
Der Zug würde ihn lediglich an den Rand des Tales bringen können, die Gleise waren in den letzen Jahren nur an wichtigen Stellen gelegt worden. Vor ihm lag noch ein Fußmarsch von etwa vier Stunden. Allerdings musste er erst die nächsten zwölf Stunden Zugfahrt hinter sich bringen, er würde am frühen Morgen ankommen.
Seth war seit zwei Monaten achtzehn Jahre alt, wie viele der anderen jungen Magier. Keiner war älter als zwanzig, allerdings war er nur einer von wenigen Waisen. Da die meisten ihre Familien vor Jahren verlassen mussten, konnten sie nun zurückkehren. Jeder von ihnen war aus einem anderen Dorf, einer anderen Stadt gekommen, bereits günstig verteilt, was wiederum bewies, dass es ihr Schicksal gewesen war – von Anfang an.

Seth war anders, nicht nur anders als die Menschen, sondern auch anders als die Anderen. Wenn er sich an die Zeit in der Akademie erinnerte, waren es nicht viele schöne Erinnerungen. Keiner seiner Freunde hatte lange zu ihm gehalten, die anderen Kinder spürten damals schon, dass er mehr Magier war als sie. Mächtiger, seiner Bestimmung verbundener…
Seth schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn über die Vergangenheit nachzudenken. Vor ihm lag eine Zukunft in Rockland Jess und er hoffte, die Menschen dort waren nicht so schwierig wie seine Mitschüler.


Es war zehn Uhr am Vormittag als Seth das einzige gemeinschaftlich aussehende Grundstück von Rockland Jess betrat. Er hatte von seiner Magie zehren müssen, um nicht vollkommen erschöpft anzukommen. Seth machte sich bereits Gedanken, wie er bessere Wege zur nächsten Stadt schaffen konnte, als er Stimmen vernahm.

Nervosität machte sich in ihm breit. Eigentlich war er nicht der Typ für so etwas, aber jahrelang kannte er nur den Kontakt zu den anderen Magier-Kindern, die zwar ihre Fähigkeiten in Mephistos Sinne entwickelt hatten, aber nicht ihren Charakter. Viele von ihnen führten sich auf wie Götter, die Retter der Welt, vergessend, was die Menschen in all den Jahren geschaffen hatten, während sie erst mal aufwuchsen und lernten.
Ein leises erschrockenes Keuchen hinter ihm ließ Seth zusammen zucken.


Er drehte sich um und sah ein junges Mädchen. Sie sah ihn mit großen Augen an und stotterte: „Sie…sie sind schon da…oh…wir…wir haben sie erst am Abend erwartet.“
Seth konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen.
„Warum bist du dir so sicher, dass ich der Magier bin?“
Wieder stotterte sie und Seth kam nicht umhin es irgendwie niedlich zu finden.
„Ähm…ihre Augen…na ja…sie sind ganz anders und…wobei…wir dachten…“ Sie schwieg abrupt und errötete leicht. Seth wusste schon was sie meinte, seine Augenfarbe überraschte sie wahrscheinlich weniger als sein Aussehen allgemein. Die anderen Magier trugen alle stolz ihre Umhänge und Hüte, aber er war damit nie gut Freund geworden.


Eine Zeit lang standen sie sich schweigend gegenüber und das Mädchen wusste augenscheinlich nicht mehr weiter. Die Situation war etwas angespannt.
„Nun ja.“, lenkte Seth ein. „Dann kannst du mich vielleicht zu eurer Bürgermeisterin bringen?“
Sie nickte und ging im stumm voraus. Immer noch lächelte Seth und folgte ihr. Hoffentlich würden seine nächsten Begegnungen ein wenig wortreicher ausfallen.

Mit nur wenigen Schritten kam ein Ort in Sicht, den Seth als Marktplatz, als Zentrum des Dorfes erkannte. Der Brunnen in der Mitte war intakt, Wasserzufuhr war zum Glück nie ein großes Problem gewesen.
Sechs weitere Menschen warteten dort und steckten anscheinend noch in den Vorbereitungen einer Feier – seiner Willkommensfeier?
Seth hatte sich viele Szenen ausgemalt, war Begrüßungen und Erwiderungen im Kopf durchgegangen auf dem langen Weg nach Rockland Jess. Hätte ihm allerdings jemand gesagt, dass die Menschen aus seinem Dorf sogar ein kleines Fest für ihn ausrichteten, er hätte es nicht geglaubt – wenn er sich denn nicht täuschte.
Mephisto hatte ihm oft eingeschärft, dass Seth nicht zu viel von den Menschen erwarten sollte.
„Es ist ihr gutes Recht uns bis zu einem gewissen Punkt zu misstrauen, schließlich haben sie zwölf lange Jahre darauf gewartet, dass ihnen endlich geholfen wird und glaube mir, sie haben bereits sehr viel aufgebaut.“, sagte Mephisto einmal zu ihm. „Respektiere das und du wirst besser mit ihnen auskommen. Im Grunde bist du auch ein Mensch, gesegnet mit der Fähigkeit zu helfen.“

Die Stimme des Mädchens holte ihn zurück ins Hier.


„Ähm, Rosi? Kommst du bitte, er ist schon da, also der…ähm…“
Sie lief rot an und beeilte sich zu einer schwarzhaarigen jungen Frau zu kommen, die Seth gleichaltrig schätzte. Ihm entgegen kam daraufhin eine etwas ältere, dennoch sehr jugendlich wirkende Frau. Sie strahlte ihn an.


„Sie müssen Seth sein?“, begrüßte sie ihn und reichte ihm die Hand. Der Rest versammelte sich hinter ihr und Seth wurde es wieder etwas mulmig.
„Mein Name ist Rosemarie Vertrau, nennen sie mich bitte Rosi, das wäre mir weitaus lieber als Frau Vertrau.“, sie kicherte mädchenhaft. „Ich bin die Bürgermeisterin von Rockland Jess.“
Seth lächelte ebenfalls etwas, um seine Überraschung zu verstecken und musterte währenddessen den Rest der Gruppe. Er vermutete, dass gut die Hälfte der Einwohner zugegen war.
Es begann eine kurze Vorstellungsrunde, in der er erfuhr, dass das junge Mädchen Poppy hieß. Als sie sich ihm vernünftig vorstellte, errötete sie erneut und erntete einen amüsierten Blick der Schwarzhaarigen, die sich als ihre Schwester Viola herausstellte.
Tatsächlich sollte das ganze Spektakel eine Willkommensparty werden. Seth fühlte sich etwas unwohl damit, war er es nicht gewöhnt, dass man ihn so höflich und zuvorkommend behandelte. Mephisto war eigentlich bisher der Einzige gewesen, der ihn wohl um seinetwillen gemocht hatte.
Immer wieder betonte Seth, dass das alles nicht nötig gewesen wäre, lobte das Essen des örtlichen Koches Gino, der ein vorzügliches Huhn bereitet hatte und wurde bereits ein wenig von dem jungen Blonden, dessen Namen er gar nicht verstanden hatte, genervt. Dieser quasselte ohne Pause und Seth war froh als Rosi zu ihm kam, nachdem sie gemerkt hatte, dass er mit allen ein paar Worte gewechselt hatte und jeder mit Essen und Trinken gesättigt war.
„Ich denke es wird Zeit in mein Büro zu gehen. Wir müssen noch viel besprechen, bevor ich ihnen ihr Haus zeige.“
Seth verabschiedete sich vorerst und musste sich nochmals eingestehen, wie surreal die Situation doch war, als er Rosi durch Rockland Jess folgte.

Das Dorf sah sehr trostlos aus und Seth würde sich später die Zeit nehmen sich alles genau anzusehen. Beim Haus der Bürgermeisterin angekommen wurde ihm auch klar, dass es ein provisorisches Rathaus war.
Ihr Büro war dennoch nett eingerichtet, wenn auch etwas spärlich.


Nachdem sie sich gesetzt hatten, wurde Seth bewusst, dass es nun „ernst“ werden würde. Er war angekommen, an dem Ort, für den er jahrelang ausgebildet worden war.
Rosi lächelte ihn aufmerksam an.
„Ich will offen sein. Wir haben zwar einen jungen Menschen erwartet, aber ihre Erscheinung ist herrlich unerwartet.“
Seth lächelte leicht.
„Ich lege nicht viel Wert auf Zaubererrobe und Umhang. Derzeit reisen nur Händler und Magier und es war angenehmer nicht sofort erkannt zu werden. Ich muss mich erst mal an die Welt außerhalb der Akademie gewöhnen.“
Sie nickte verständnisvoll.
„Wir werden ihnen die Zeit geben, die sie brauchen, schließlich ist das auch in unserem Sinne.
Nun, wo wollen wir anfangen?“

Für diese Situation war Seth vorbereitet.
„Ich werde ihnen meine Geschichte erzählen, denn sie sollten sie kennen, weil es mir lieber ist, wenn sie mir vertrauen. Vorher möchte ich aber Rockland Jess kennen lernen und vor allem dessen Einwohner.“
Seth sah sie fest an.
„So komisch das klingen mag, erzählen sie mir bitte nicht nur die oberflächigen Dinge. Ich muss die Vergangenheit des Dorfes kennen, um ihnen allen eine Zukunft bieten zu können. Sie müssen mir beim besten Willen keine intimen Details erzählen, aber ich denke, sie können bestimmt beurteilen, was ich wissen sollte und was nicht, wenn ich sie um die größtmögliche Offenheit bitte, die sie mir geben können.“


Zu seiner Überraschung lächelte Rosi weiterhin.
„Ich bin froh, dass sie so reden, froh, dass sie so offensichtlich an unserer Zukunft interessiert sind.
Also dann bringe ich ihnen Rockland Jess einmal näher.“